Mobilmachung
Kapitel 1
Er war sich noch nicht ganz sicher, was um ihn herum passierte - oder passiert war. Seine Gedanken schweiften umher, dunkel glaubte er sich an seinen eigenen Namen zu erinnern. Das kühle Metall in seiner Hand gab ihm eine gewisse Sicherheit. Es fühlte sich vertraut an.
Plötzlich nahm er wahr, wie sich auf dem morastigen Schlachtfeld weitere Kämpfer erhoben. Einige schrien, das Gesicht verzerrt, vielleicht waren es Schmerzensschreie, vielleicht Schreie der Erleichterung. Was es auch war, es drang nur dumpf in sein Bewusstsein. Moment… Schlachtfeld? Ja… Er hatte gekämpft, zusammen mit all den Männern und Frauen um ihn herum. Langsam, unendlich langsam und zäh, lichtete sich der Nebel um seinen Geist endlich. Die Erinnerungen schossen daraufhin regelrecht auf ihn ein.
Ein riesiger Angriff der Verdorbenen, Schwerthiebe, Stiche, Paraden, stinkendes, schwarzes Blut, zertrümmerte Kniescheiben, gebrochene Knochen, noch mehr Blut, ein Ritual, der Turm der Erneuerung, Panik, eine riesige Lichtwelle... Ein schon fast körperlicher Schmerz durchfuhr ihn, er stöhnte, kniff die Augen zusammen und drückte seine Finger an die Schläfen.
Als sich der Druck in seinem Kopf etwas abgeschwächt hatte, öffnete er blinzelnd seine Augen wieder. Jemand rannte auf ihn zu. Ein vertrautes Gesicht. Eines, dem er momentan keinen Namen zuordnen konnte, aber ein vertrautes. Ihre Rüstung war blutverschmiert, ebenso ihr Schwert. Ihre Haare trug sie nach hinten geflochten - soweit er dies bei all dem Schmutz überhaupt erkennen konnte. Er verlor sich einen Moment in ihren grünen Augen, während er sich an ihren Namen zu erinnern versuchte. Die Frau legte ihm die Hand auf seine Schulter und sprach auf ihn ein. Wieder drangen die Worte nur dumpf zu ihm durch. Sie sah ihn fragend an. Dann verpasste sie ihm eine Ohrfeige. Der Schmerz schien zu wirken, denn nun verstand er, was sie ihm sagen wollte.
«Der Turm ist sicher!»
Er drehte sich um, stiess sein Schwert in den Boden und starrte den riesigen schwarzen Turm an, der sich vor ihm in die Höhe erstreckte. Die Spitze des Turms verschwand weit oben in der düsteren Wolkendecke. Er war das Zentrum seines Volkes, ein Heiligtum. Die letzte Bastion im Kampf gegen die Verderbnis und die Kreaturen, die von ihr befallen waren. In den unzähligen Stockwerken unterhalb lagern schier unendlich viele Dokumente, Folianten, Schriftrollen und Aufzeichnung von vergangenem Wissen. Die Stockwerke darüber waren reserviert für die Ratsmitglieder, die Strategen, Generälen, Spionen, der Magier - und unzähligen anderen Personen, die dafür sorgten, dass das Reich gedeihen konnte.
Die grauen Wolken verzogen sich langsam und nur noch vereinzelt zuckten Blitze den Kanten des grossen Gebäudes entlang.
Dann, plötzlich, begann auch er zu grinsen.
-
Schritt um Schritt erklomm sie die Treppenstufen hinauf zum Rednerpult. Der lange Umhang aus weissem Samt glitt leicht über den Boden, als wolle er ihn spielend liebkosen. Die goldenen Stickereien wiesen Sie als Vorsteherin des Rates aus. Das Rednerpult symbolisierte einen aufsteigenden Phönix - und nur mit Mühe widerstand sie dem Impuls, sich aus lauter Erschöpfung auf den güldenen Flügeln abzustützen. Es war eine lange Nacht. Und es war eine überaus Kräfte zehrende Nacht. Der Tag schien auch kein einfacher zu werden - der Schlaf musste warten. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und holte Luft. Dann sagte sie, was gesagt werden musste.
«Der Turm ist nicht sicher!»
Die ersten Sonnenstrahlen des noch Jungen Tages fielen durch das grosse Glasbild und tränken den Raum in ein Farbenmeer. Mit dem Licht der Sonne verlor der Turm täglich seine dunkle Farbe und erstrahlte in einem hellen Elfenbein. Sie liebte dieses Farbenspiel, doch heute mochte es ihre Stimmung nicht zu heben. Im bis zum Bersten gefüllten Raum erhoben sich Stimmfetzen, fast so zahlreich wie die bunten Lichtpunkte. Sie hob ihre Hand, um das aufkommende Gemurmel unter den Zuhörern zu unterbinden.
«Ruhe!» brüllte der uniformierte Mann neben ihr, als das aufgeregte Getuschel im Raum nicht schnell genug verstummt war.
«Es ist mir schmerzlich bewusst,» fuhr sie fort, «was diese Nachricht in Ihnen auslöst, aber wir dürfen unsere Augen nicht vor der Wahrheit verschliessen. Der Turm ist nicht sicher. Wir sind nicht sicher. Keiner von uns. All die tapferen Frauen und Männer, die gestern nacht vor dem Turm der Erneuerung gestorben sind, haben uns nur Zeit erkauft. Die acht Kaiserlichen Magier, die mit dem Ritual der Reinigung unzählige Verdorbene vernichtet haben, haben uns nur Zeit erkauft.»
Die Worte fühlten sich an wie Galle. Bitterer Geschmack machte sich breit, doch so schrecklich sie auch sind, sie durften nicht zurückgehalten werden.
«Es war leider nicht der Befreiungsschlag, den wir uns erhofft hatten. Das Übel wurde nicht besiegt, es wurde nur zurückgedrängt. Wir stehen in direktem Kontakt mit all den grossen Städten unseres Landes - und durch unsere Botschafter auch mit den Regierungen unserer Nachbarn. Und daher kann ich mit trauriger Bestimmtheit sagen: All die Opfer gestern Nacht haben uns nur Zeit erkauft.»
Ungläubige Augenpaare starrten sie an. Totenstille herrschte, vereinzelt unterbrochen durch aufkommendes Schluchzen.
Erneut fand eine widerspenstige Haarsträhne den Weg in ihr Gesicht. Dieses Mal strich sie sie nicht wieder zurück, denn sie verdeckte eine Träne, die sie nicht zurückhalten konnte. Viele der Männer und Frauen, die sich vor wenigen Stunden in die Schlacht stürzte, kannte sie seit Jahren. Viele sah sie aufwachsen - und nicht wenige davon waren beinahe noch Kinder gewesen, kaum alt und auf keinen Fall erfahren genug, um ein Schwert zu führen.
«Ich wünschte, wir könnten uns die Zeit nehmen, um die Gefallenen zu betrauern. Ich wünschte, wir hätten die Zeit, uns von ihnen zu verabschieden, doch die haben wir nicht. Wir haben nicht die Zeit, um den Sieg zu feiern, den wir gestern errungen haben. Denn es war kein Sieg. Die Verderbnis wurde nicht ausgelöscht. Der Kriegsrat arbeitet, während ich zu euch spreche, weitere Strategien aus, wie wir ihrer Herr werden können. Eine dieser Strategien beruht auf einer alten Prophezeiung aus dem Band der Schöpfung. Die Gelehrten finden vieles davon niedergeschrieben, was in den letzten Tagen passiert ist. Ganze Kapitel der Schöpfungsgeschichte würden nun einen Sinn ergeben. Das Konsortium hat die Funde nach langen Diskussionen mit unseren Nachbarstaaten Ertiros, Runea und Yaruna geteilt. Auch wenn wir in der Vergangenheit unsere Differenzen hatten, so eint uns der gemeinsame Feind. Heute Morgen wurde ich vom Vorsteher des Konsortiums, Indral dem Weisen, darüber informiert, wie die Verse zu deuten sind.»
«Mit den wahnsinnigen Baumumarmern aus Ertiros sollen wir uns zusammenschliessen?! Und mit den Leichenfledderern aus Runea?! Seid ihr denn des Wahnsinns?!» Mit hochrotem Kopf schrie einer des versammelten Adligen seinen Unmut über die beschlossene Zusammenarbeit nach vorne zum Rednerpult. Zur Unterstützung seines Missfallens reckte er seine Faust aus der Menge nach oben. Vereinzelt sah man Leute nicken und einige zustimmende Einrufe wurden laut.
«Ruhe!» donnerte der Uniformierte erneut in die Menge.
«Ich bin mir sehr wohl darüber im Klaren, dass diese Idee nicht bei allen auf fruchtbaren Boden fallen wird. Im Gegenteil. Lasst mich bitte aussprechen. Die Prophezeiung spricht von fünf magischen Artefakten aus der Schöpfungszeit. Wenn all diese fünf Artefakte gefunden und zusammen an einen bestimmten Ort gebracht werden können, so soll dies den Ursprung der Verderbnis ausmerzen können. All das klingt alles äusserst fantastisch, daher konnte der Rat sich nicht dazu durchringen, die zweite Legion loszuschicken. Allerdings hat er sich darauf geeinigt, Freiwillige zu suchen, diese mit der benötigten Ausrüstung auszustatten und sie vom regulären Dienst der Armee freizustellen, bis entweder die Artefakte gefunden oder die Dauer von zehn Monden verstrichen ist - gerechnet ab heute. Eure Aufgabe wird es nun sein, unter euren kämpfenden Männern und Frauen, in euren Ländereien oder Provinzen nach Freiwilligen zu suchen. Lasst die Boten umgehend abreisen. Lasst uns die mit Blut, Schmerz und Leben erkaufte Zeit nutzen.»
-
Bier. Endlich.
Er hatte nicht gedacht, noch einmal in seinem Leben Bier trinken zu können. Ein Schnitt am Arm musste genäht werden und an einigen - an sehr vielen - Stellen seines Körpers nahm die Haut eine violette Färbung an, glücklicherweise aber nicht im Gesicht. Die Ohrfeige, die er erhalten hatte, war nicht so schlimm, wie es sich zuerst angefühlt hatte.
Wie dem auch sei. Er lebte - und das war die Hauptsache. Ohne Dröhnen im Kopf und bei vollen Sinnen. Und nun sass er zusammen mit seinem Trupp er an einem Tisch. Die Stimmung im Gasthaus war trotz des Sieges gedämpft. Denn im Turm verhielt man sich seltsam ruhig. Er hätte erwartet, dass nach dem Sieg über diese stinkenden Kreaturen ein rauschendes Fest gefeiert würde. Doch nichts dergleichen geschah. Keine Ansprache der Vorsteherin des Rates, keine Freinacht… Es schien so, als sei es noch nicht vorbei. Schulterzuckend verdrängte er seine eigenen Gedanken. Dafür blieb später noch genügend Zeit.
Und gerade, als er sich wieder seinem kleinen Glück mit Schaumkrone widmen wollte, stiess ein bärtiger Mann mit dem weiss-goldenen Wappen des Turms auf seiner Brust und seiner Botentasche die Tür auf und suchte nach Freiwilligen.
Sein Land schien ihn ein weiteres Mal zu brauchen. Verflucht soll er daher sein, wenn er sich nicht in dieses Abenteuer stürzen würde. Warum sollte er auch nicht? Die Verderbnis hatte ihm die Liebe seines Lebens genommen, daher hielt ihn ohnehin nichts mehr an diesem Ort. Und er hatte die letzten Wochen mehr als genug dieser Verdorbenen erledigt, da würde die Suche nach irgendwelchen Artefakten ein Kinderspiel sein.
Also leerte er kurzerhand den Humpen und meldete sich. Sein Trupp zögerte keine Sekunde und schloss sich ihm an.